Der Südwestkirchhof in Stahnsdorf bei Berlin ist Deutschlands zweitgrößter Friedhof: 206 Hektar wilde Romantik. Ein Zaubergarten der Toten. Ein Wald mit historischen Mausoleen und Prominentengräbern. Ein Naturparadies voller Kultur. Dazu ein Verwalter, für den dieser „letzte Garten“ der Himmel auf Erden ist.
Leidenschaft und Friedhof werden gewöhnlicher Weise nicht miteinander in Verbindung gebracht. Doch in Stahnsdorf kommen diese beiden Begriffe zusammen, sie verschmelzen sogar.
Der Südwestkirchhof
Auf dem Südwestkirchhof in Brandenburg ist alles anders. Das ist schon am Haupteingang zu spüren. Man kommt rein und es sieht nicht nach Friedhof aus. Gerade laufen einige buntgekleidete Jogger heraus, ein junges Paar mit Hund an der Leine geht hinein. Aber kein Grab ist zu sehen, weit und breit. Nur Bäume, Büsche, Blumen. Eher wie der Eingang eines Parks. Die Besucherin wird von Grün umhüllt.
Olaf Ihlefeldt – mit Leidenschaft Friedhofsverwalter
Und dann erscheint der Friedhofsverwalter. Er erfüllt kein Klischee: nicht alt, nicht grau, nicht dunkel gekleidet. Dafür strahlend helle Augen. Augen, die noch intensiver leuchten, als würde ein Dimmer voll aufgedreht werden, wenn der Mann beginnt, vom Südwestkirchhof zu erzählen, „seinem“ Friedhof. Olaf Ihlefeldt brennt vor Leidenschaft – für diesen Ort. Das ist sofort klar.
Was macht dieses Stück Erde so besonders, welches weit mehr ist als einfach nur ein Friedhof? In diesem „letzten Garten“ der Menschen kommt einfach alles zusammen: Kunst, Kultur und viel Natur. Ach ja, auch Trauer. Doch die scheint sich in der sanften, schützenden Atmosphäre des Waldes irgendwie aufzulösen. So wie ein liegen gebliebener Baumstamm, der nach und nach zu Waldboden wird.
Dolmetscher des Friedhofs
„Ich verstehe mich als Dolmetscher des Friedhofs“, sagt der Brandenburger, der in Potsdam geboren wurde. „Der Friedhof kann nicht reden, aber er hat unglaublich viel zu erzählen.“ Und dann sprudelt es aus ihm heraus. Die Führung auf Deutschlands größtem Waldfriedhof beginnt.
Doch diese Friedhofsführung ist kein langweiliges Dahindackeln von einem Prominentengrab zum anderen. Etwa 80 berühmte Persönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts sind in Stahnsdorf beerdigt, wie der sozialkritische Berliner Maler Heinrich Zille, der Komponist der Märchenoper „Hänsel und Gretel“ Engelbert Humperdinck oder Elisabeth Baronin von Ardenne, deren Scheidungsgeschichte Theodor Fontane zu seinem Roman „Effi Briest“ inspirierte.
Murnaus letzter Garten
Faszinierend sind die Geschichten, die „in“ den Gräbern stecken. Die Besucher tauchen kurz ein in das Leben eines anderen Menschen. Da ist die Grabstätte aus Travertin von Friedrich-Wilhelm Murnau (1888-1931) und seinen Brüdern. Der Stummfilmregisseur des Filmklassikers „Nosferatu“, der eigentlich Plumpe hieß, fand in Hollywood Ruhm – und dann den Autounfalltod. Greta Garbo und Fritz Lang sammelten monatelang Geld für die Überführung des Leichnams von Kalifornien nach Deutschland, denn Murnau war trotz seines Erfolgs pleite.
Murnau in der Gruft
Ein Leben voller Auf- und Anregungen, ein Tod voller Dramatik und ein „Ruhestand“ mit einem unfassbaren Tabubruch. Ihlefeldt geht die Treppe zur Gruft hinunter und öffnet die knarrende Tür. Es riecht nach feuchtem Keller. Langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit, die von der Taschenlampe schwach erhellt wird. Drei Särge stehen nebeneinander, zwei aus Holz, einer aus Metall.
Seit Anfang der 1930er Jahre ruht Murnau in dieser Familiengruft der Plumpes gut einbalsamiert in einem amerikanischen Zinksarg. Doch seine Totenruhe wurde gestört. Unbekannte brachen den Sarg auf und entwendeten seinen Schädel. Grabschändung, eigentlich in allen Kulturen ein unfassbarer Tabubruch. Ist es eine Ironie der Geschichte, dass Murnaus letzter Film, dessen Aufführung er nicht mehr erlebte, „Tabu“ hieß?
Mausoleum – Gartenhaus der anderen Art
Doch Ihlefeldt geht es nicht um Gruselgeschichten. „Ich will ein Gartendenkmal erlebbar machen“, erklärt der 50Jährige. Beim Mausoleum der Familie Caspary wölbt sich eine mächtige Kuppel wie ein blauer Himmel mit Sternen über dieses „letzte Haus“. Das einstige Kupferdach ist längst von Metalldieben gestohlen und durch ein Zinkdach ersetzt. Eine Treppe führt in einen von Säulen getragenen Raum hinauf. Die darunterliegende Gruft verschließt eine schwere Granitplatte.
Die jüdische Familie, die durch die Produktion von Schnellbootmotoren zu Reichtum gelangte, hatte die Anlage als Ruhestätte für Generationen geplant. Doch dazu kam es nicht. Die Casparys wanderten in den 1930er Jahren – rechtzeitig – nach Kanada aus. So erzählt das stattliche Bauwerk im Friedhofswald von zerstörten Lebensplänen, die sich später als Lebensrettung erwiesen.
„Wir wollen dieses schöne Mausoleum wie andere auch erhalten“, erklärt Olaf Ihlefeldt. Als Grabpate könne man solch ein Mausoleum selbst auch nutzen. Im Zinksarg in einer Gruft ruhen? Dies wirkt wie aus der Zeit gefallen. Doch inzwischen sind Gruftbestattungen in Brandenburg wieder erlaubt. So können sich kunstliebhabende Friedhoffans als Pate ihren Platz für die Ewigkeit aussuchen. Übrigens, der Begriff Mausoleum stammt vom persischen Statthalter Maussolos, der sich schon zu Lebzeiten ein Haus für die Zeit nach dem Tod hat bauen lassen.
Expressionismus auf dem Gottesacker
Ihlefeldt hält an dem ungewöhnlichen Grabmal der Saatguthändlerfamilie Wissinger an. Ein Gerippe aus Stahlbeton von 1920, das von dem Architekten Max Taut stammt, bildet einen bizarren Baldachin – eine scharfkantige Interpretation eines gotischen Gewölbes. Die einzelnen Grabanlagen auf dem Gottesacker in Stahnsdorf sind extrem unterschiedlich. Ein Friedhof, der Architekturgeschichte geschrieben hat. Oder wo gibt es schon expressionistische Grabanlagen?
Der Weg führt weiter durch den Wald. Gräser und Efeu überwachsen alte Grabsteine. Das ist mehr als Patina. Vielmehr wirkt es, als würden Natur und Grabsteine eine Symbiose eingehen, als wären sie füreinander geschaffen. Dieser Friedhof gibt der Natur Raum. Eigentlich kommt er eher wie ein Wald mit Gräbern daher als ein Friedhof mit säuberlich geplanten und gepflanzten Bäumen.
Stahnsdorf und die Idee der europäischen Zentralfriedhöfe
Und doch ist der Südwestkirchhof in Stahnsdorf genau geplant – von dem Gartenarchitekten Louis Meyer (1877-1955) zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals wuchs die Bevölkerung rasant. Die Friedhöfe in den Großstädten wie Berlin reichten nicht mehr aus. Und so entstanden in Europa Zentralfriedhöfe am Rande der großen Städte, wie der Cimetière du Père-Lachaise in Paris, der Zentralfriedhof in Wien, der 400 Hektar große Parkfriedhof Ohlsdorf in Hamburg und eben der Südwestkirchhof in Stahnsdorf am Rande von Berlin.
Eine gigantische Idee, nicht nur für damalige Zeiten. Auf dem Gelände eines Hochwaldes sollte ein Friedhof für 600.000 prognostizierte Tote von 21 Kirchengemeinden im Westen Berlins entstehen. Dabei entschied sich der Architekt gegen einen Kahlschlag der Bäume. Er bezog den Wald mit ein. „Vor über 100 Jahren war das Konzept revolutionär – heute trifft es genau den Geschmack der Zeit: Leichtigkeit, Naturbelassenheit, der Ort als Oase der Ruhe“, strahlt Ihlefeldt.
Einfluss durch Lenné
In gewisser Weise ist der Südwestkirchhof auch von Peter Joseph Lenné beeinflusst. Preußens vielleicht bekanntester Gartengestalter gründete die Königliche Gartenlehranstalt in Potsdam. Die hatte Louis Meyer während seiner Ausbildung besucht. Und so gestaltete Meyer in der märkischen Waldlandschaft Wege, Sichtachsen, Gebäude. Ein geschwungener, ringförmig geführter Weg bildet die Hauptlinie durch das Gelände. Auch heute fühlt sich die Gestaltung harmonisch an. Wahrscheinlich ist sie deshalb beim Herumspazieren auch so wenig präsent.
Der Garten der Toten
„Für mich ist das ein Garten der Toten“, schwärmt Ihlefeldt, „und zugleich ein wertvolles Gartendenkmal, eine ökologisch und gartenkünstlerisch ganz hochwertige Anlage!“ Er hält es für eine gesellschaftliche Aufgabe, dies zu vermitteln. So werden es Stunden der Erkenntnis in diesem Waldgarten – und der Nachdenklichkeit. Gedanken über das Leben, den Tod und wie wir Menschen damit umgehen.
Zum Beispiel als der Friedhofsverwalter erwähnt, dass die anonyme Bestattung auf dem Südwestkirchhof seit einigen Jahren wieder abgeschafft wurde. Nach jedem Wochenende mussten auf den anonymen Urnenfeldern Berge von Blumen, Kerzen und Teddybären weggeräumt werden. Die Herzen der Menschen könnten mit „anonym“ nichts anfangen. Die Trauer braucht einen Ort.
Der Trend zum Waldgarten
„Deshalb machen wir nun seit zehn Jahren Bestattungen unter Bäumen“, sagt Ihlefeldt und zeigt in den Wald hinein. Wie Pilze befinden sich auf dem Waldboden Ministeine – mit den Namen der Verstorbenen, deren Urne an der Stelle beigesetzt wurde. Die Steine sind für alle gleich, die Beschriftung und die Symbole individuell. Da ist ein Fußball zu sehen, ein Fahrrad, selten ein Kreuz.
Diese Gräber erfordern keine große Pflege, aber im Gegensatz zum anonymen Urnenfeld einen Namen. „Bei uns soll jeder Tote einen Namen haben.“ Das ist Ihlefeldt überaus wichtig. Jeder Name, jeder Mensch zählt. Auch wenn er tot ist.
Manfred Krug im letzten Garten
Manche Menschen scheinen sich im Tod verstecken zu wollen, wie etwa der Schauspieler Manfred Krug. Der 2016 verstorbene Film- und Fernsehstar liegt tief im Wald unter Bäumen. Schwer zu finden. Besucher und Fans suchen sein Grab manchmal stundenlang vergeblich. Seltsam, kann doch ein Schauspieler ohne Publikum eigentlich nicht sein.
Die Waldbestattung unter einem Baum ist inzwischen die meist genutzte Form der Bestattung in Stahnsdorf. Gräber unter Bäumen – das suchen die Menschen heute wohl. Naturnähe im Tod – in einer Zeit der Naturferne, fast der Naturentfremdung. Oder schlägt da die romantische Liebe der Deutschen zum Wald durch?
Die Zartheit des Moosgartens
Doch diese wilde Romantik will gepflegt sein. Das ist sehr aufwändig. „Bei 206 Hektar Größe haben wir nur noch 15 Friedhofsgärtner, das ist nicht viel“, berichtet Ihlefeldt und biegt in einen Weg ein, der ganz und gar mit Moos bewachsen ist. Die Schritte federn weich. Im Schatten des Waldes bei schwach durchscheinendem Sonnenlicht leuchtet die Moosoberfläche in hellem Grün. Ein himmlischer Anblick an einem sehr geerdeten Ort.
„Das ist Luxus! Die Besucher ziehen sich manchmal sogar die Schuhe aus, um barfuß auf das Moos zu treten. Mein Gott, wo findet man das noch? Auch Botaniker sind begeistert und forschen hier“, freut sich Ihlefeldt. Natur erdet. Der Friedhof entschleunigt. Wenn er auch dieses Modewort nicht so mag.
Der Luxusgarten
„Dieser Friedhof ist ein „Luxusfriedhof“, meint Ihlefeldt ein wenig ironisch weiter. „Ein Luxus, den wir uns eigentlich gar nicht leisten können. Ein Kleinod.“ Es ist dem Verwalter unmöglich, die gesamte Riesenfläche aufwändig zu pflegen. So machte er aus der Not eine Tugend. „Ich wollte den Friedhof nicht radikal verändern, nicht die Motorsäge ansetzen und alles platt machen, was manche als praktisch ansehen. Das hätte diesem Ort den Charme entzogen.“
Weniger ist bekanntermaßen oft mehr. Das Moos und auch andere Pflanzen dürfen also wachsen. „Heute bin ich froh, dass wir nur behutsam eingegriffen haben.“ Und da muss der 50jährige schmunzeln. „Was wir hier die letzten drei Jahrzehnte aus der Not gemacht haben, ist heute Zeitgeist: Naturbelassenheit.“
Das Pflanzenparadies
Die Natur scheint sich bedanken zu wollen. „Unser Friedhof gilt mit 672 Pflanzen- und Tierarten als der artenreichste in ganz Deutschland.“ Sagt’s und als wäre es inszeniert, schlängelt sich eine Blindschleiche am Wegesrand.
Bei der Anlage des Friedhofes wurden einst große Mengen an Gehölzen und Stauden gepflanzt. Doch Stahnsdorf ist nicht nur ein Ort der Natur, sondern auch der deutschen Geschichte. Vor allem die Teilung Deutschlands sollte ihn in fast absurder Weise direkt treffen. Aber der Reihe nach.
Eine Geschichte voller Wendungen
Feierlich eröffnet wurde der Südwestkirchhof in Stahnsdorf mit den Sektionen für 21 Kirchengemeinden im Jahr 1909. Ab 1913 konnte der neue S-Bahnhof Stahnsdorf-Friedhof in Betrieb genommen werden. Die „Leichenbahn“, der sogenannte „Witwenexpress“ rollte. Zu Tausenden reisten die Särge aus Berlin nach Stahnsdorf, nachts in der S-Bahn in Spezialwaggons transportiert. „Damals zählte man 3.000 Bestattungen jährlich“, weiß Olaf Ihlefeldt. „Heute sind es gerade einmal 600 im Jahr.“ Der Bahnhof hat den Krieg nicht überlebt, die Bahnhofskneipe daneben schon.
In der Nazizeit wurden 1938/39 in Berlin-Schöneberg mehrere Friedhöfe aufgelassen und eingeebnet, um für Hitlers Germania-Planung Platz zu schaffen. 15.000 Gräber mussten mit ihren Gebeinen zwangsumziehen, vor allem nach Stahnsdorf.
Auch das repräsentative Mausoleum der Familie des Wörterbuch-Königs Langenscheidt baute man in Berlin ab und in Stahnsdorf wieder auf. Ein bombastischer Gräberumzug. Irgendwie unvorstellbar. Seitdem steht das letzte Haus der Langenscheidts in der nordwestlichen Ecke des Friedhofs auf einer Wiese, neben einer eineinhalb Kilometer langen Reihe weiterer umgezogener Grabanlagen.
Dann der Mauerbau 1961. Keine S-Bahn fuhr mehr von Berlin nach Stahnsdorf in Brandenburg, DDR. Die Berliner Gemeinden hatten ihren Friedhof verloren. Besuche am Grab gestalteten sich für Westberliner schwierig. „Die 150 Bestattungen pro Jahr damals waren Leute aus der Umgebung“, erläutert Ihlefeldt. Nur noch wenige Friedhofsmitarbeiter kümmerten sich zu der Zeit um das riesige Areal. Die Pflanzen konnten wuchern…
Nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands starteten dann viele Sanierungsmaßnahmen durch die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Seitdem kämpft Olaf Ihlefeldt für den Erhalt des Flächendenkmals und seiner außergewöhnlichen Grabanlagen.
Der Privatgarten der Familie von Siemens
Im Laufe seiner über hundertjährigen Geschichte fanden mehr als 120.000 Tote ihre letzte Ruhestätte auf dem Südwestkirchhof. „Von den Ärmsten der Armen bis zu den Reichsten der Reichen“, versichert Ihlefeldt und öffnet gleichzeitig das Eingangstor zu der Grabanlage der Familie des Wissenschaftlers und Unternehmers Werner von Siemens (1816–1892): 1000 Quadratmeter groß. Wie ein Privatfriedhof im Friedhof.
Die geheime Symbolik
Danach stoppt Ihlefeldt an einem Grabstein mit einem gemeißelten Schmetterling. Er liebt es, die Zeichensprache alter Gräber zu entschlüsseln. „Der Schmetterling mit seinen unterschiedlichen Entwicklungsstadien wie Ei, Raupe, Kokon und Falter steht für den Zyklus des Lebens.“
Der Garten der Toten lüftet seine Geheimnisse. Die Grabsteine sprechen vom ewigen Kreislaufs des Lebens. „Das Leben fängt an, das Leben hört auf – wie im Kokon, in dem das neue Leben schon wartet“, übersetzt der Friedhofskenner und empfiehlt: „Bei Gräbern immer genau auf die Details achten!“
Wer das tut, dem fallen auch arabische Schriftzeichen auf manchen Grabsteinen auf. Zwar gehört der Südwestkirchhof Stahnsdorf der Evangelischen Kirche, aber trotzdem werden dort Menschen anderer Konfessionen, wie Muslime und Juden, ebenso bestattet.
Die Moderne im letzten Garten
In den fast drei Jahrzehnten seiner Arbeit auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf war dem Friedhofsverwalter wichtig, Altes zu erhalten und die Vision des Architekten fortzuschreiben. „Dennoch haben wir uns auch dezent an die Zeit anpasst und zeitgemäß gestaltet, etwa bei neuen Gräberfeldern.“ Aber ohne Sichtachsen zu zerstören oder Rasenflächen zuzubauen. „Hier brauchen Menschen Platz zum Picknicken mit etwas Abstand zu den Gräbern!“
Ein Leben für den Garten
Der Verwalter wirkt wie eine Einheit mit seinem Waldfriedhof. Dennoch war für Ihlefeldt dieser Werdegang unerwartet. „Als Gärtner komme ich zwar aus dem grünen Bereich“, erzählt Olaf Ihlefeldt von seinen beruflichen Anfängen. Gelernt hat er bei einer berühmten Adresse: Potsdam Sanssouci. Dort macht er 1987 seinen Meister. „Aber an Friedhof hatte ich mit Anfang 20 nicht gedacht.“
Dennoch trat er am 1.1.1989 im Jahr des Mauerfalls eine Stelle als Gärtner am Südwestkirchhof an. Sogleich sprang der Funke über. „Was ich hier lebe und spüre: der Friedhof nimmt einen ein. Wenn man sich für Geschichte, Kultur und Natur interessiert, geht es nicht anders. Dieser Garten der Toten hat mich sofort gefesselt!“
Die Kirchenleitung erkannte wohl das Potential dieses leidenschaftlichen Friedhofliebhabers und machte Ihlefeldt bereits 1991 zum hauptamtlichen Kirchhofverwalter. „Damals war ich mit Mitte zwanzig der jüngste Friedhofsverwalter Deutschlands.“
Und dann ging sein Engagement erst richtig los. Er begnügte sich nicht damit, den Friedhof zu pflegen und zu unterhalten, sondern er wollte retten, fördern und eben „dolmetschen“. Seit 1991 macht Ihlefeldt ehrenamtlich Führungen. „Das große Interesse ist mir Motivation“, sagt er. Sein Wissen hat er größtenteils selbst recherchiert.
Alles ändert sich, auch im Garten
Dass sich die Welt der Friedhöfe so dramatisch wandeln würde, war ihm damals nicht klar. „Was sich in den letzten 30 Jahren bei uns geändert hat, darüber werden die Menschen noch in 200 Jahren sprechen“, davon ist Ihlefeldt überzeugt. Und da der Friedhof auch irgendwo ein Spiegel unserer Gesellschaft ist, trifft dieser Satz wohl nicht nur auf das Friedhofsleben zu.
Nach der Führung geht es zum Konzert in die Norwegische Kapelle. Ein Quartett spielt barocke Musik. Eine Trauerkapelle ohne Trauer, einfach nur schöne Klänge. Der Holzbau im Stil norwegischer Stabkirchen ummantelt mit seiner Dunkelheit die Gäste im Inneren. Wie eine Höhle, die Schutz bietet. Darunter befindet sich der historische Leichenkeller, gut gekühlt, inzwischen aber ohne Leichen.
Kultur im Friedhof
Nach dem Konzert stehen die Besucher bei einem Glas Sekt beieinander und reden. Sie können auf ein mit Heide bewachsenes Tal blicken, eine Sichtachse, über die sich der Gartenmeister Lenné freuen würde. Es ist eine ruhige, friedliche Atmosphäre im Anblick der Mausoleen. Doch nicht nur Konzerte gibt es auf diesem Friedhof, auch Theater, Kino und sogar Tanz. Ein von Ihlefeldt initiierter Förderverein organisiert das Programm.
Darf man das, auf einem Friedhof Kultur machen? „Für manche Kritiker ist das ein Tabu. Ich glaube aus Angst heraus“, sagt Ihlefeldt. Andere dagegen sind begeistert. Der Waldfriedhof ist ein besonderer Ort der Begegnung. „Auf den Konzerten treffe ich auch Angehörige, die ihr Kind oder ihre Oma vor kurzem zu Grabe getragen haben. Ich sehe sie dann ganz entspannt. Dann freue ich mich.“ Als würde die Kultur helfen, die Verhärtung der Trauer zu lockern, zu lösen.
Und die viele Natur scheint die Trauer aufzusaugen, wie Bäume ihren Saft aus dem Erdreich saugen und nach oben in die Krone transportieren, damit die Blätter den Trauersaft verdunsten können.
Engagement für die Gartenkultur
Der Förderverein wirbt auch für Grabpatenschaften. Denn viele wertvolle Gräber haben keine Nutzungsberechtigungen mehr. Keiner kümmert sich mehr. Langsam verfallen die architektonischen Kleinode. Allein, ohne Hilfe von außen kann der Friedhof die vielen Grabanlagen nicht erhalten. Eine Grabpatenschaft, da rattert das Hirn. Will man so weit im Leben bis zum Tod vorausdenken? Und schon denkt man.
Manchmal fragen die Leute: Wie kann man nur ein Leben lang auf einem Friedhof arbeiten? Und da strahlt der Friedhofsmensch schon wieder: „Die Arbeit auf dem Kirchhof ist eine immense Bereicherung für mich. Wirklich facettenreich. Hier kommt alles zusammen: Gartenpflege, Denkmalpflege, Gartenkunst, Begegnungen mit Menschen, Seelsorge, Trauerarbeit. Über die Gräber hinweg habe ich tolle Menschen kennengelernt.“ Damit meint er nicht nur die Queen, der Ihlefeldt die Hand geschüttelt hat, als sie 2004 den Englischen Soldatenfriedhof auf dem Gelände besuchte.
Für sich selbst hat Olaf Ihlefeldt auch bereits ein Grab ausgesucht. „Ich weiß genau, wo ich hinkomme. Da ist es schön.“ Mit einem Sitzplatz mit Blick aufs Grab. „Die Vorstellung ist großartig, dass dort später vielleicht einmal einer sitzt. Die Brücke vom Grab zum Himmel ist intensiv. Ich empfinde das so, wenn ich an Gräbern stehe. Für mich knüpft sich da eine Verbindung vom Irdischen zum Göttlichen.“
Der ewige Garten
Er empfindet das so. „Manche Kritiker sagen ja, sie bräuchten das nicht, Gräber, Friedhof und so, das Bild im Regal würde reichen“, erzählt Ihlefeldt. „Doch komischerweise kommen die trotzdem zum Grab.“ Ohne je zu missionieren, versichert er: „Als Christ habe ich keine Angst vor dem Tod.“ Mit Leichtigkeit nimmt er schweren Themen das Gewicht. „Am Grab darf man auch feiern!“
Besonders freut er sich über das Lachen der Kleinen auf seinen speziellen Führungen für Kinder. Nicht nur für den Friedhofsverwalter, auch für den Menschen Ihlefeldt ist der Friedhof ein schöner und guter Ort, an dem es immer weiter geht, mit etwas Neuem, Schönem, das irgendwann anfängt.
„Ich bin an diesem Friedhof enorm gereift“, philosophiert er. „Dieses Bewusstsein, die Endlichkeit als Selbstverständlichkeit zu sehen, aber mit Gelassenheit und einem Blick ins Jenseits. Trotzdem arbeite ich hart weiter. Diese Aufgabe will ich nie missen!“ Da entpuppt sich selbstredend dieser Garten der Toten als Garten der tiefen Erkenntnis.
2017/12
WAS IST NOCH GUT ZU WISSEN?
INFORMATIONEN: Südwestkirchhof Stahnsdorf, Bahnhofstraße 2, 14532 Stahnsdorf, Tel: 03329-614106, info@suedwestkirchhof.de, www.suedwestkirchhof.de
Der riesige Parkfriedhof liegt in Stahnsdorf in Brandenburg, südwestlich von Berlin. 120.000 Menschen sind hier begraben, darunter viele Prominente. Die Trägerin des Friedhofs ist die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
Über das Jahr hinweg finden Führungen zu unterschiedlichen Themen statt, zum Beispiel auch zur Heide- oder Rhododendronblüte, manchmal auch mit dem Fahrrad. Daneben gibt es spezielle Führungen für Kinder und Jugendliche im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren. Für Schulklassen und Kitagruppen auf Anfrage.
Der Friedhof bietet außerdem viele Kulturveranstaltungen. Wer sich engagieren möchte, beteiligt sich bei ehrenamtlichen Putzaktionen. Da kommen die Teilnehmer meist locker ins Gespräch – über Gott, die Welt und den Tod.
Ein Audio-Guide kann am Eingang ausgeliehen werden. Manche der Gräber tragen einen QR-Code, der auf die Website von www.wo-sie-ruhen.de führt. Die WebApp wurde für 37 national bedeutende historische Friedhöfe in Deutschland entwickelt.
Seit 2004 arbeitet Olaf Ihlefeldt aktiv in der „Association of Significant Cemeteries in Europe“ (ASCE) mit. In dieser europäischen Vereinigung haben sich inzwischen 180 Mitglieder aus 22 Ländern zusammengeschlossen, die sich um bedeutende Friedhöfe kümmern mit dem Ziel, die Position der Friedhöfe als Teil des gesellschaftlichen Lebens zu stärken und sie als kulturelles Erbe zu erhalten.
LITERATUR-TIPP: Das Bundesland Brandenburg steckt volle Gärten. Einen Überblick verschafft dabei dieser Gartenreiseführer und gibt eine Einführung in etwa einhundert Gärten und Parks.
Oliver Hoch, Gärten und Parks in Brandenburg, L&H Verlag, 2013, ISBN: 978-3939629177
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Wo in Berlin liegt der große Otto Sander begraben, wo Hildegard Knef oder der romantische Dichter und Botaniker Adelbert von Chamisso? Einen kompakten Überblick über 15 der bedeutensten Friedhöfe in Berlin mit vielen Prominentengräbern liefert dieser kleine, handtaschenkonforme Friedhofsführer.
Ingolf Wernicke, Berliner Friedhöfe. Spaziergänge zu den wichtigsten Ruhestätten, Jaron Verlag, 2017 (erweiterte Neuausgabe), ISBN: 978-3-89773-426-5
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STATISTIK: In Deutschland gibt es etwa 32.000 Friedhöfe mit insgesamt 33 Millionen Gräbern. Die Friedhöfe gehören den Kommunen, der Evangelischen Kirche (9.200) und der Katholischen Kirche (3.600). Im Jahr 2015 war in Deutschland das Verhältnis von Erdbestattung und Urnenbeisetzung 55% zu 45%.
WEITERE INFOS ZUM REISELAND Brandenburg: www.brandenburg.com
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